Wie fährt sie? Wie bremst sie? Wie fühlt sie sich an? Wie klingt sie? Kann sie dich zum Umstieg von deiner aktuellen V85TT locken? Diese Fragen möchte ich heute von der neuen Moto Guzzi V100 Stelvio beantwortet haben. Die klare Antwort vorweg für alle, die keine Zeit zum Weiterlesen haben: Ja, aber…
Reinhard Loitz, der ganze Generationen von Gsibergern (= Ureinwohner südlich des Bodensees) mit dem Motorradvirus infisziert hat, empfängt mich in seinen Hallen. Neben ihm der Seeadler aus Mandello. Schön steht sie da, edel und gut verarbeitet. Der erste wassergekühlte Motor sieht aus, wie ein Guzzi V2 Motor aussehen muss. Der Kühler ist gut ins die Verkleidung integriert und die markanten, nach unten geführten Auslässe enden in einem schön gezeichneten Auspuff. Die vertikalen Einlässe ermöglichen den optimalen Strömungsfluss des Benzin-Luftgemisches. So sind 115 PS aus 1042 ccm und 105 NM Drehmoment möglich.
Besonders edel wirkt die massive Einarmschwinge mit der hohlgebohrten Hinterradachse und dem links angelegten, per Handrad verstellbaren Mono-Federbein. Die schlauchlosen Speichenräder 4.5 x 17’’ hinten und 3.0 x 19’’ vorne unterstreichen die Ausrichtung als klassische Reiseenduro.
Die Tank-Sitzbank-Kombination ist gelungen und verspricht eine bequeme, aufrechte Sitzposition. Die Lenker-Schalter sehen hochwertig und ergonomisch aus, ebenso das Dashboard mit reduzierter schwarz-weiss Grafik – große Tacho- und Ganganzeige, etwas zu kleiner Drehzahlmesser, sonstige Infos (Tankanzeige, Temperatur, Gang, Modus, etc.) gut verteilt.
Dem Windschild sieht ma den hohen Entwicklungsaufwand an: links und rechts zwei Winglets und die zweigeteilte, zerklüftete Hauptscheibe, die sich auch während der Fahrt elektrisch stufenlos um 7cm verstellen lässt. Beim Scheinwerfer hat die Designer allerdings der Mut verlassen: schade, dass die runden Scheinwerfer der V85 dem beliebigen Manga-Design im Stil der Mitbewerber weichen mussten.
Inzwischen hat Reinhard das Kennzeichen montiert und macht mir Angst: „Du kannst sie jetzt selbst rausschieben” – immerhin stehen an die 50 Bikes und 20 Besucher zwischen mir und dem Ausgang. Etwas unlocker wegen der erwartungsvollen Blicke schiebe ich das Teil unfallfrei durch den Showroom, entspanne mich aber nach wenigen Metern: die 246 Kilo lassen sich super einfach und leicht rangieren.
Wir stehen draußen im Regen, die Stelvio und ich. Mein Eindruck: die Ergonomie passt perfekt. Sitz- und Lenkerhöhe, Schalt- und Bremshebel, Höhe der Scheibe, Kniewinkel – alles wie für mich (187 cm) maßgeschneidert. Den Lenker finde ich zu dünn, ich kann ihn mit leichtem Druck zum Schwingen bringen. Dies mag der Grund sein, warum später Feinmotoriker wie mein Freund Doktor Rainer über unangenehme Vibrationen klagen werden. Beim Überfahren von Kanaldeckeln scheppert die Mechanik des Windschilds, was mich im Laufe der Zeit immer mehr stören wird.
Die ersten 20 Kilometer auf der Autobahn: ich genieße die Beschleunigung des bärenstarken 115 PS Motors, der Geradeauslauf ist perfekt, der Windschutz sehr gut. Die voll ausgefahrene Scheibe nimmt jeglichen Winddruck von den Schultern, nur im offenen Jethelm stören die Windgeräusche – eine etwas höhere Scheibe oder alternativ ein Spoiler sollten das Problem komplett lösen.
Die optimale Reisegeschwindigkeit der Stelvio liegt bei 130 – 140 km/h, bis hier lässt sich die Italienerin locker einhändig fahren. Das Spielen mit dem Windschild macht Spaß, allerdings ohne großen Wirkung – den Sinn sehe ich eher für heiße Tage: die niedere Einstellung lässt dann mehr kühlenden Fahrtwind für den Kopf zu.
Mehr Einsatz verlangt die Stelvio auf engen Bergstraßen: im Bereich des Lenkkopfs wirkt sie träge und muss mit harter Hand in enge Links-Rechtskombinationen gezwungen werden. Die 2-Finger Brembo Bremsen lassen schnelle und präzise Bremsmanöver zu, auf dem Hinterrad gereift die „MG Traktion Control” sehr früh ein, was sogar Spaß macht: du fängst an, den wimmernden, leicht stempelnden Reifen beim Anbremsen zu provozieren.
Generell sind die fünf Fahrmodi inkl. Offroad-Modus über einen leicht erreichbaren Schalter beim elektronische Gasgriff während der Fahrt einstellbar. Zusätzlich können die Modi noch individuell eingestellt werden. An weiteren elektronischen Helfern bietet die Stelvio Full LED Scheinwerfer mit Kurvenlichtfunktion, Kurven-ABS und Tempomat.
Weniger ergonomisch präsentiert sich die linke Schaltereinheit: die vier Menütasten sind zwar perfekt und beinahe selbsterklärend, das Problem ist die Platzierung von Hupe und Blinker: beide sind zu hoch angebracht, beim Blinken und Hupen muss man die Hand vom Lenker nehmen. Abhilfe dürfte das Verdrehen der Schaltereinheit bringen, bis es individuell passt.
Wer will, kann seine Stelvio noch mit einem Quickshifter (Prädikat: empfehlenswert) oder verschieden hohen, beheizbaren Sitzbänken, Koffersystem, etc. aufrüsten. Mehr Info dazu in den Technischen Daten (unten). Wer sich allerdings für die Ausführung mit der neuen PFF Rider Assistance Solution für Kollisionswarnung, geschwindigkeitsabhängigem Tempomat und Tot-Winkel Erkennung interessiert, kann das nicht über die Zubehörliste machen, sondern muss zum eigenen Modell Stelvio PFF Rider Assistance Solution® greifen.
Ein Wort zum Design: Wir machen eine Pause und blicken ins Tal, die Stelvio und ich. Vier deutsche GS Fahrer bleiben stehen. Nach einem kurzen Blick auf uns drehen sie sich kollektiv weg, grüßen nicht und ignorieren die schöne Italienerin – ein schöneres Kompliment kann es für die Guzzi eigentlich gar nicht geben ;-)
Nachdem wir uns ordentlich kennen gelernt haben, geht es auf meine Hausstrecke auf das Furkajoch. Der Motor macht süchtig, das Fahrwerk – Prädikat hart aber herzlich – bügelt die Rumpelpassagen locker weg, das Getriebe ist ordentlich abgestimmt, der bassige Sound begeistert und das Lächeln unter dem Helm wird immer breiter. In Gedanken überlege ich schon, wie ich mich von meiner treuen Moto Guzzi V85TT verabschieden soll.
Zurück unten im Tal melden sich dann aber wieder ein paar Macken, die ich hier noch erwähnen will:
- Erstens, das Getriebe, vor allem – rumms! – der erste Gang. Das Einlegen im warmen Zustand ist vergleichbar mit einem Tritt ins Kreuz, auf Schotter reagiert sogar das ESP im Hinterrad. Anfahren auf Kreuzungen folgt dem Motto: Rumms, klonk, klonk, klong, glong, ——. Vielleicht liegt das an der schlecht eingestellten Kupplung, vielleicht an den zu hohen Leerlauf-Drehzahlen von 1.500 U/min. Hier muss dringend ein Update her, was beim traditionell schwerhörigen Guzzi Management allerdings länger dauern könnte.
- Zweitens, das Pfeifen der Lichtmaschine beim untertourigen cruisen muss man mögen. Bei niedrigen Geschwindigkeiten singt der Wasserbüffel wie ein turbogesteuerter Elektromotor, was auf Dauer richtig nerven kann. Erst wenn der Fahrtwind das Singen überlagert, setzt sich der wunderbare Sound des V-Motors durch.
- Drittens, ein paar Kleinigkeiten. Der Stauraum – unter dem zweiteiligen Sitz gibts es nicht einmal Platz für eine dünne Regenjacke, Warnweste, Werkzeug oder Verbandspäckchen. Zum Nachfüllen von Kühlflüssigkeit müssen erst drei Schrauben der Verkleidung gelöst werden. Und bei der Handwäsche stören die vielen Vertiefungen und Zerklüftungen, die echt Arbeit machen. Die leichten Vibration zwischen 2.000 und 3.000 U/min und das Scheppern der Scheibenmechanik wurden schon erwähnt.
Resümée: die Moto Guzzi V100 Stelvio hat zwei Gesichter: zum einen der geniale, wassergekühlte Motor mit seinem Drehmoment von 105 NM, das super Fahrwerk samt Bremsen, der ergonomisch perfekte Sitzkomfort (niedrige und hohe beheizbare Bänke gibts als Zubehör), der gute Windschutz und die Verarbeitung sprechen für eine Kaufentscheidung. Der chronische Tritt ins Kreuz beim Anfahren, das Lima-Pfeifen, die leichten Vibrationen, das Klappern der Scheibe und das leicht ruppige Gehabe beim Stop & Go Verkehr (Charakter?) dämpfen die Begeisterung. Insgesamt ist die Moto Guzzi V100 Stelvio ein feines Reisemotorrad für die große Tour mit mehr als genug Leistung und ausgeprägtem Charakter.
Die Frage, ob sich ein Umstieg von der kleinen Schwester Moto Guzzi V85TT auf die neue Stelvio lohnt, möchte ich persönlich so beantworten: er lohnt sich für alle, denen die V85TT zu wenig Leistung hat, die gerne zu zweit und mit vollem Gepäck auf die große Reise gehen, denen das Klingeln des luftgekühlten Motors auf die Nerven geht und die nur wenig Schotter fahren. Auch die Jagd auf Gummikühe kann – abhängig vom Fahrkönnen – mit der Stelvio viel Spaß bereiten.
Moto Guzzi V100 Stelvio
Baujahr: | 2024 |
Hubraum: | 1042 ccm |
Leistung: | 115 PS bei 8.700 U/min |
Drehmoment: | 105 NM bei 6750 U/min |
V-max: | ca. 220 km/h |
Verbrauch: | ca 5,3 l/100 km |
Gewicht: | 246 kg (fahrbereit) |
Moto Guzzi V100 Stelvio OEM Zubehör: Touring-Windschild, Motorschutzbügel, Hauptständer, Seitenkoffer, Top Case, beheizbarer Komfortsitz (hoch und nieder), Heizgrifffe, Mia Multimedia Plattform, Diebstahl-Warnanlage, LED-Zusatzscheinwerfer, USB Anschluss, Reifendruck-Kontrollsystem
Moto Guzzi V100 Stelvio – Reaktionen über Facebook & Co
Der kleine Testbericht über die Stelvio hat zahlreiche Reaktionen im Internet ausgelöst – die meisten durchwegs positiv: mit der V100 Stelvio ist Moto Guzzi ein großer Wurf gelungen. Hier noch einige konkrete Kritiken mit Tipps aus der Praxis von Guzzisti für Guzzisti. Herzlichen Dank dafür!
Carlo Kirsch
FB Moto Guzzi Stelvio 2024-DE-AT-CH
Hallo Gernot, habe Deinen Bericht über die Stelvio gelesen, sehr schön. Bin selbst im April von einer V100 Mandello umgestiegen auf die Stelvio. Die Kritikpunkte sind weitesgehend die gleichen, das meiste aber einfach zu beheben. Windschildmechanik wie bei der V100 auseinander gebaut, etwas dickere Wellenfederringe eingebaut und gut ist, Kühlwasser nachfüllen ohne Verkleidung zu demontieren mit einer kleinen Einwegflasche und einer Silikonspitze gut machbar, 1. Gang einlegen, beschissen, danach schalten sich alle Gänge wie Butter, absolut geräuschlos wenn man vor dem Kuppeln schon ganz leicht den Schalthebel nach oben drückt und die Kupplung nur ein ganz kleines Stück zieht. Die Geräusche von der Lichtmaschine habe ich nicht und bin bis jetzt 8.200 km gefahren, unter anderem bis Albanien. Was nicht schön ist sind die Blinker, leuchtet nur ein ganz kleiner Teil, genau so bescheiden wie bei den GS. Alles in allem bin ich richtig froh mit dem Teil und ein bisschen abheben von den ganzen GS kann ja auch nicht schaden. Grüße, Carlo
Thorsten Stephan
Ich hab sie seit 8.000km. Mein Windschild kommt von Givi, super für Fahrer über 185cm. Da klappert es nicht. Der Motor ist genial und mega souverän mit Sozia und vollem Gepäck. Lästige Vibration? Ist mir nie aufgefallen. Neutral in 1. Gang nervt. Händler ist informiert. Inzwischen schalte ich vorher in der Fahrt in den ersten. Dann kein Klonk. Im Vergleich zur E5 V85TT wirkt die Stelvio erwachsener. Mein Frau, die Beste Sozia von Allen votiert übrigens auch klar pro Stelvio. Auf der V85TT wollte die 186cm große Frau nicht mehr mitfahren.
Roger Leuenberger
Hatte Heute eine Stelvio als Ersatzmaschiene.Sitzposition, Lenker, alles passt. Voller Vorfreude gings los. Nach 30km kurze Zigi Pause. Guzzi springt nicht mehr an... Mech angerufen. Tankdeckel auf, Zündung 2-3mal ein aus, läuft wieder. Ok,weiter gehts. Fährt sich toll, handlicher und leichter als meine alte Stelvio NTX. Nach rund einer Stunde kurze Trinkpause. Springt wieder nicht an – konnte machen was ich wollte, geht nicht. Nochmals kurz warten, springt an. Nach ca.10km Batterielampe leuchtet und irgend ein Schriftzug mit MGC erscheint, Motor geht aus und fertig. Keine Batteriespannung nichts. Habe da wohl ein richtiges Montagsmodell erwischt. Morgen wird sie abgeholt, bin gespannt was da genau der Fehler ist. Hoffe ein Einzelfall, habe bisher nichts über solche Probleme gelesen.
Andreas Wo
FB Moto Guzzi Stelvio 2024-DE-AT-CH
Vielen Dank für den Bericht. Der Scheibenmechanismus ist ja schon in allen Berichten negativ bewertet worden. Soll ja bei den neueren Modellen geändert worden sein. Mir würde dazu auch der Verstellmechanismuß der neuen V85TT vollkommen ausreichen. Elektrisch sowieso Schrott, hatte ich bei der V100 der ging ab 120km nicht mehr zu verstellen, weil der Elektromotor die Kraft dazu nicht hatte. Da wird es im Laufe der Zeit dazu bestimmt noch Änderungen geben. Der Motor ist von der Kraft her über jeden Zweifel erhaben. Getriebe sind wir doch als Guzzisti nicht verwöhnt und gehört dazu. Aber keine Frage, das können andere Marken besser. Vom Motorenkonzept V2 oder auch Boxer halt schwerer zu realisieren als beim Reihenvierer.
Joachim Emrich
FB Moto Guzzi Stelvio 2024-DE-AT-CH
Sehr schöne Fotos und interessanter Bericht. Vielleicht sollte noch erwähnt werden, daß die Stelvio nicht für die härtere Off-Road Passagen gedacht ist. Dagegen sprechen die Fussrasten, die direkt am Gehäuse verschraubt sind, so daß im Falle eines Sturzes ein Loch oder Riss im Gehäuse entstehen könnte. Offroad Fussrasten dürften auch die Motorvibrationen 1 zu 1 übertragen. Der Wasserkühler hat auch nur einen Pseudo Schutz gegen Steinschlag. Mein Spritverbrauch lag bei 5,4 Liter auf 100 km bei bergiger Landstraßenfahrt. Leider ist das der Euro 5 zu verdanken. Der Einschlag beim ersten Gang stört mich weniger. Da gibt es härtere Kollegen, wie zum Beispiel Harley.
Nikolaus Kunrath
FB Moto Guzzi Stelvio 2024-DE-AT-CH
Was mich noch als Tourenfahrer ein wenig nervt: kein Hauptständer in Serie und die Koffer sind eher Handtascherln – 29 Liter ist echt klein!. Und über die Montage/Demontage erst gar nicht zu sprechen. Witzig ist die Hupe, die klingt, als würde ich auf meiner Vespa in Kleinausführung sitzen.
Klaus Sparmann
Die V85TT ist nicht die "kleine Schwester" der Stelvio, weil es zwei völlig verschiedene Motorräder sind. Genauso gut könnte man jede beliebige andere Guzzi mit ihr vergleichen. Davon abgesehen finde ich die Stelvio viel zu schwer, auch schwer zu rangieren und neben den Quietschgeräuschen vom Motor (Lima?), gefällt mir auch die restliche blecherne Akustik nicht. Das Mäusekino ist überfrachtet und man muss sogar für den Windschild erstmal den Menüpunkt suchen. Der Lenker ist für mich zu weit vorne, der Seitenständer viel zu kurz und der Schalthebel zu klein. Einzig die Motorcharakteristik und die Bremse konnten mich überzeugen. Insgesamt kein Grund zu diesem völlig anderen Motorrad zu wechseln.
Heike Eva Mewes
Also jetzt muss ich doch mal meinen Senf dazu geben. Ich habe sie letztes Wochenende GEMIETET, weil ich sie auf den Pässen testen wollte. Fazit: für mich optimal wegen der Sitzhöhe und dem Gewicht. Fahrwerk und Bremsen super. Mir gefiel das „stabile“ Fahrgefühl… was ich bei meiner „Kleinen“ immer bemängelt hatte, war die Lücke bei der Gasannahme (aber auf dem Feld stehe ich, glaube ich, allein da). Bei der Stelvio war das jedoch top und überhaupt nicht zu spüren. Jippieh Fahrspass pur. Aber… wassergefühlt… darauf war ich gespannt. Das hohe Standgas, dass bei der Wasserkühlung nicht vermeidbar ist geht gar nicht – ich war so enttäuscht. Mein Guzzisound fehlt mir. Und bei der Motorbremse… blecherner geht nicht!! Fahrwerk supi, Fahrspass supi (wenn man das „stabil“ und „fest“ mag wie ich…. Mir fehlt das Guzziblubbern… mir fehlt „Guzzi“ ich bleib erst einmal bei meiner „Kleinen“.